Aufsatz des Monats

Ein Gastbeitrag:

Josef Kraus ist viel gefragter Bildungsexperte und Buchautor. Er war bis Juni 2017 mehrere Jahrzehnte Präsident des Deutschen Lehrerverbandes.

Fortsetzung

3. In Europa machen sich bedenkliche ersatzreligiöse (Groß-) Ideologien breit. Europa muss sich deshalb wieder auf Ideologiekritik besinnen.

Für viele sind das Soziale oder die Klimakatastrophe oder der Antifaschismus oder die Anti-Atomkraft-Bewegung zur Religion geworden. Auch sonst erleben wir alljährlich – selbst auf Kirchentagen – ein Patchwork an Religionsversatzstücken und einen bunten Synkretismus, der alle Gegensätze vereint: Astrologie, Kosmologie, Reinkarnation, Zen, Buddhismus, Esoterik, magische und okkulte Praktiken. Dazu kommt der quasireligiöse, sich in Schöpferpose gerierende Genderismus! Warum all dies? Weil der Mensch offenbar Religion braucht. Zumindest Religion light!

1989 verkündete Francis Fukuyama das Ende der Geschichte, und er meinte, dass jetzt die liberale Ordnung gesiegt habe, weil sich alle Ideologien erschöpft hätten. Fukuyama liegt falsch. Richtig liegt Joachim Fest: „Die vom Sozialismus gebundenen Bedürfnisse nach einem Glauben und einer Daseinsbotschaft sind mit dessen Ende ziellos geworden und werden nicht lange damit warten, neue Uniformen anzulegen und unter neuen Fahnen zu neuen Phantasiereichen aufzubrechen.“ Ersatzreligiöse Uniformen, könnte man sagen.

4. Europa muss reflektieren, woran große Kulturen scheiterten.

Europa ist gefährdet. Viele wollen davon nichts wissen. Für sie gilt, was Reiner Kunze in seinem Gedicht „Teurer Rat“ (2006) geschrieben hat: „Nicht ratsam ist´s, verfall / Verfall zu nennen / Vor der katastrophe.“ Alexander Demandt („Das Ende der Weltreiche“ bzw. „Der Fall Roms“) schreibt: „Dekadenz ist die Verbindung verfeinerten Lebensstils mit sinkender Lebenskraft, eines Zuviel an Subtilität mit einem Zuwenig an Vitalität.“ Für besonders folgenschwer ist nach Einschätzung von Demandt  die Schwächung des militärischen Bereichs; es gab kaum noch Freiwillige. Karthago und Rom seien untergegangen, weil deren Bürger nicht mehr zur Selbstverteidigung bereit waren.

Samuel P. Huntington rüttelte den Westen mit seinem 1993 erschienenen Aufsatz und seinem dann 1996 veröffentlichten Buch „The clash of civilizations“ („Der Kampf der Kulturen“) auf. Laut Huntington sind die Anzeichen der „inneren Fäulnis“ des Westens unübersehbar: Geburtenrückgang, Überalterung, Zunahme der Asozialität, Auflösung der Familienbande, Zunahme egomanischer Attitüden, Schwinden der Autorität von Institutionen, Hedonismus, Rückgang des Sozialkapitals, d. h. der Mitgliedschaft in Vereinen, das Schwinden des zwischenmenschlichen Vertrauens, Nachlassen des Arbeitsethos und zunehmender Egoismus, abnehmendes Interesse an Bildung. Und der vormalige Kardinal Ratzinger und spätere Papst Benedikt XVI. im Jahr 2000: „Europa scheint in der Stunde seines äußersten Erfolgs von innen her leer geworden … Es gibt eine seltsame Unlust an der Zukunft … Kinder, die Zukunft sind, werden als Bedrohung der Gegenwart gesehen … Sie werden als Grenze der Gegenwart gesehen.“

Womöglich bedarf es der Herausforderung des Islamismus, damit die inneren Kräfte Europas sich wieder konstituieren. Zugleich gilt unvermindert Georges Santayana: Wer die Geschichte ignoriert, muss darauf vorbereitet sein, sie zu wiederholen.

5. Ein westlicher Masochismus dient weder Europa noch der Welt.

„Die ganze Welt hasst uns, und wir haben es verdient: Dies ist die feste Überzeugung der meisten Europäer, zumindest im Westen.“ Diesen provokanten Satz schreibt der französische Philosoph Pascal Bruckner in seinem 2008 auf deutsch erschienenen Buch „Der Schuldkomplex – Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte für Europa“. (Die Originalausgabe ist 2006 anders überschrieben, nämlich auf deutsch mit: „Die Tyrannei der Buße. Essay über den westlichen Masochismus“.) Übrigens: Auch Joseph Kardinal Ratzinger sprach im Jahr 2000 vom „Selbsthass des Abendlandes“.

Leider aber verhält sich die politische Klasse in Europa bisweilen wie Jakob Biedermann in Max Frischs Einakter „Biedermann und die Brandstifter“ von 1958. Darin nisten sich bei dem Haarwasserfabrikanten Jakob Biedermann der Ringer Josef Schmitz und der Kellner Eisenring im Dachboden ein. Biedermann will die Gefahr der Brandstiftung selbst dann noch nicht wahrhaben, als Schmitz und Eisenring Benzinfässer und Zündschnüre in den Speicher schleppen und bereits Nachbarhäuser brennen. Biedermann bietet sogar Streichhölzer an. Er will die Realität nicht wahrhaben: „Blinder als blind ist der Ängstliche, / Zitternd vor Hoffnung, es sei nicht das Böse, / Freundlich empfängt er`s, / Wehrlos, ach, müde der Angst, / Hoffend das Beste . . . / Bis es zu spät ist.“

Josef Kraus

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Es werden weitere Beiträge von Herrn Josef Kraus folgen!

 

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